Donnerstag, 20. Oktober 2016

Warum ich mir „Harry Potter“ nicht mehr ohne „The cursed Child“ vorstellen kann


von Henni

  
Ich war eines der glücklichen Kinder, die mit den Harry Potter Büchern im wahrsten Sinne des Wortes aufgewachsen sind. Wenn ein neuer Band erschien, war ich (fast) immer genau in dem Alter wie Harry, Ron und Hermine. Wer nicht selber diese Erfahrung gemacht hat, kann sich nicht vorstellen was das für einen wahnsinnigen Effekt auf einen jungen Menschen hat. Harry, Ron und Hermine waren nicht nur Figuren auf einer Buchseite, sondern Menschen mit denen man aufgewachsen ist; Menschen die das gleiche durchgemacht haben wie man selber. Damit meine ich natürlich nicht Duelle mit dunklen Lords, Kämpfe mit Monstern und Zauberei, sondern etwas sehr viel Schwierigeres: das Erwachsenwerden. Deshalb ist es vielleicht nicht verwunderlich, dass es keine andere Geschichte gibt, die für mich persönlich wichtiger ist als Harry Potter.

Deswegen habe ich Harry Potter and the cursed Child wirklich nicht besonders begeistert entgegen gesehen. Die Geschichte war für mich zu Ende erzählt. Eine Fortsetzung schien keinerlei Daseinsberechtigung zu haben. Befürchtungen machten sich breit, dass Harry Potter ein weiteres Opfer unserer Popkultur werden könnte, die scheinbar einfach nicht loslassen kann. Eine weitere aufgewärmte Geschichte „für die Fans“; soll heißen voller Anspielungen und Cameo-Auftritte, aber ohne jeglichen tieferen Gehalt.

Verdammt, bin ich froh, dass ich falsch lag.

Ab hier folgen leichte Spoiler, also seid gewarnt. Falls ihr The cursed Child noch nicht gelesen (oder gesehen) habt, solltet ihr das schnellstens nachholen. Denn es ist thematisch vielleicht die vielschichtigste und interessanteste Harry Potter Geschichte.

The cursed Child beginnt genau da, wo viele Leser ein Problem mit den alten Büchern hatten: beim Ende. Mich hat Harrys großes Happy End in Die Heiligtümer des Todes, als er seinen Sohn Albus Dumbledore am Gleis 9 ¾ auf dem Weg nach Hogwarts in eine strahlende Zukunft verabschiedet, als Jugendlicher nie so sehr gestört, wie andere Leser und Leserinnen. Ich finde es auch nach wie vor ein „verdientes“ Happy End, aber als halbwegs erwachsener Mensch muss ich mittlerweile eingestehen, dass es ein eher „einfaches“ Ende für die Hauptfiguren ist.

Genauso scheint J.K. Rowling mittlerweile auch zu denken und so beginnt sie das neue Stück (mit Hilfe von Theaterschreiber und (Mit-?)Autor Jack Thorne) direkt mit dieser Szene, nur um dann einen sehr mutigen Schritt zu machen: sie zeigt, dass das Leben nicht einfach bei einem Happy Ende anhält, sondern weitergeht.

Denn es stellt sich heraus, dass Harry nur weil er ein Held ist, noch lange kein guter Vater ist. Es fällt ihm schwer mit seinem Sohn Albus zu kommunizieren, der nicht das gleiche vom Leben möchte wie sein Vater, der nach Slytherin geschickt wird, Draco Malfoys Sohn Scorpio befreundet und für den Hogwarts ein furchtbarer Ort ist. Der Sohn des „Auserwählten“ zu sein, bringt wiederum für Albus nur Spott, Häme und nie füllbare Fußstapfen. Und so driften Vater und Sohn unaufhaltsam auseinander.

Der erste große Schrecken des Stücks ist also der Alltag. Rowling setzt hier eine wichtige Erkenntnis des Erwachsenseins um: ganz egal was für einen großen Erfolg man hat und was man im Leben erreicht, selbst wenn es der Sieg über einen dunklen Lord und sein rassistisches Regime ist, es gibt immer einen nächsten Tag. Einen nächsten Tag, an dem man sich wieder mit den kleinen Sorgen des Alltags herumschlagen muss. Banaler Alltagstrott ist etwas, dem man niemals entkommen kann und dem man sich immer wieder stellen muss. Erwachsensein heißt, dass es, egal was man macht, einfach immer weitergeht und man immer wieder die Energie finden muss, sich aufzuraffen. Harry und Albus drohen daran zu zerbrechen.

Im Stück geht es aber nicht nur um den Alltag, sondern auch um die Vergangenheit und wie Menschen mit Vergangenheit umgehen. So ist nicht nur jede Figur im Stück in irgendeiner Weise darüber definiert, wie sie mit ihrer persönlichen Vergangenheit lebt, sondern der eigentliche Plot des Stücks kommt auch ins Rollen, sobald Albus Potter entscheidet einen Fehler seines Vaters wieder gutmachen zu wollen und dafür auf magische Weise in die Geschichte eingreift; mit katastrophalen Folgen. Die Zeitreisen machen das Thema Vergangenheit absolut explizit, indem sie die Figuren wirklich direkt mit Vergangenheit interagieren lässt. Dabei zeigt sich, dass man auch in einer Welt der Magie der Vergangenheit nicht entkommen kann. Sich dem eigenen Schmerz nicht zu stellen, ihn auslöschen zu wollen motiviert nicht nur den Schurken des Stückes, sondern führt auch zur Erschaffung der schlimmstmöglich vorstellbaren Zeitlinie. Nur die Akzeptanz von Vergangenheit mit allem Trauma, was damit verbunden ist, ermöglicht es Harry und seinem Sohn eine bessere Zukunft anzustreben.

Rowling und Thorne nutzen das Zeitreisen-Konzept des Stücks aber auch aus, um einen kleinen Metakommentar über die gesamte Harry Potter Reihe zu geben. Die katastrophalen Folgen von Albus Unvermögen die Vergangenheit ruhen zu lassen, beschreiben auch die tiefgehenden Probleme einer Harry Potter Fortsetzung. Denn eigentlich ist es unmöglich Harry Potter noch weiter zu erzählen. Die ursprüngliche Geschichte war ein einmaliger Geniestreich, den man nicht einfach ein zweites Mal reproduzieren kann. Jeder Versuch daran anzuknüpfen muss im Desaster enden, und tut es konsequenterweise auch so im Stück durch den Versuch die Vergangenheit wieder aufleben zu lassen. Dass die Rückkehr von Fanlieblingen durch Zeitreisen zu einer furchtbaren Zeitlinie, in der Voldemort gewonnen hat, führt, ist außerdem noch ein netter Seitenhieb auf Fan Fiction. Den Fans zu geben was sie wollen, führt hier zur größten Katastrophe. The cursed Child ist also auch ein Stück darüber, dass man die ursprünglichen Harry Potter Bücher in Ruhe lassen soll, weil man sie weder fortsetzen noch durch Fanwünsche „verbessern“ kann.

Mit der Voldemort Zeitlinie schafft es das Stück schließlich sein vielleicht zeitigstes Anliegen zu artikulieren. Sie wird herbeigeführt durch die Manipulation ehemaliger Anhänger des dunklen Lords, die sich eine Rückkehr in die „guten alten Zeiten“ wünschen.

Und sie haben damit Erfolg.

Zumindest für eine Weile. Hier spinnen Rowling und Thorne die Alltagsmetapher von Beginn des Stücks auf der politischen Ebene weiter. Voldemort und seine Anhänger waren immer schon eine Allegorie für eine breite Mischung an rassistischen, rechten Bewegungen von den Nationalsozialisten bis zum Ku Klux Klan. Der Sieg über diese Bewegung lässt sich daher mit den diversen Erfolgen bei der Bekämpfung von Rassismus im 20. Jahrhundert vergleichen. The cursed Child zeigt nun, dass dieser Sieg nicht endgültig war. Es gibt immer noch Anhänger des Bösen und es braucht nicht viel, um sie wieder an die Macht zu bringen. Genau wie der Alltag ist Rassismus etwas, was man nie ganz wird besiegen können. Es wird immer Menschen geben, die andere Menschen aufgrund von Hautfarbe/Sexualität/Geschlecht/Religion/Sond-irgendeinem-vorgeschobenen-Grund schaden wollen werden. Egal welchen Erfolg man erzielt, ob es jetzt der Sieg über Hitler oder das Erringen des Voting Rights Acts ist, die Bedrohung bleibt real. Doch das heißt nicht, dass man verzweifeln und aufgeben sollte, sondern dass man den Kampf nie aufgibt. In Zeiten von Trump, AfD, Brexit und anderen Katastrophen, ist das Stück damit hochaktuell.

The cursed Child ist insgesamt eine absolute Seltenheit in unserer aktuellen Entertainment-Landschaft: eine Fortsetzung eines alten, abgeschlossenen Franchises, die etwas zu sagen hat und nicht nur versucht an Nostalgie anzuknüpfen. Damit reiht sich das Stück verdient in eine Reihe ein mit Creed, Mad Max: Fury Road und nicht viel anderem. Rowling und Thorne nutzen das „Erbe“ der Harr Potter Reihe, um mit diesen uns bekannten Figuren eine Vielzahl an Themen anzusprechen und schaffen damit quasi das Before Midnight der Reihe. Die ersten sieben Bücher waren über das Erwachsenwerden, nun ist The cursed Child  wie Before Midnight über das Erwachsensein. Damit  ist das Stück die bestmögliche thematische Fortsetzung der Harry Potter Reihe.

Und ich möchte diesen fantastischen Epilog meiner absoluten Lieblingsgeschichte um nichts in der Welt missen. The cursed Child führt für mich genau das fort, was die Harry Potter Reihe so toll gemacht hat. Denn letzten Endes war Harry Potter nicht so großartig, weil die Welt der Magier so gut durchdacht oder weil die Kontinuität der Serie so gut geplant war. Das hat geholfen, aber was Harry Potter zu so einem weltweiten Phänomen gemacht hat, war dass es Kunst war, die uns in unserer Lebenssituation abgeholt hat und uns etwas über uns und unsere Welt vermittelt hat.

Es wundert mich deshalb sehr, dass The cursed Child doch bei einem recht breiten Teil der Harry Potter Fans auf Ablehnung stößt. Die allgemeine Diskussion scheint sich leider eher darauf zu fokussieren, Kontinuitätsfehler zu finden, als darauf über die Themen des Stücks zu sprechen. Außerdem scheint das Stück nicht das zu sein, was viele von einer Harry Potter Fortsetzung erwartet haben; angefangen damit dass es ein Theaterstück und kein Roman ist (was viele Leute, die scheinbar noch nie ein Stück gelesen haben, zu überfordern scheint).

Aber ich würde sagen, dass die Stärken von The cursed Child gerade darin liegen, dass es in der Tradition der Harry Potter Reihe versucht etwas über uns und die Welt in der wir leben zu sagen und nicht versucht den Fans lau aufgewärmt das zu liefern, was sie oberflächlich wollen. Es ist etwas schade, dass sich viele Leser und Zuschauer darauf scheinbar nicht einlassen wollen und stattdessen geistig stumpf eine Checkliste abhaken, wie das Stück in das etablierte Universum passt. Das ist, meiner Meinung nach, kein besonders guter Zugang zu Kunst und wenn wir mal ehrlich sind kann man so jedes Harry Potter Buch abtun. Oder haben so viele Leute vergessen, dass es in Die Heiligtümer des Todes auf einmal aus heiterem Himmel hieß, dass Nahrung nicht einfach herbeigezaubert werden kann? Wir sollten Rowling und Thorne dankbar sein, dass die nicht einfach ein Cash-In geliefert haben, sondern ein thematisch vielschichtiges Werk.

Oder wäre irgendwem wirklich ein seelenloses Harry Potter Best Of/Mash Up à la Star Wars Das Erwachen der Macht lieber?

Okay, okay, okay... Das war eine rhetorische Frage. Ich wollte gar nicht wissen, dass das so vielen Leuten lieber wäre. Aber so sehr ihr es versucht, das wird euch trotzdem nicht eure verfickte Kindheit wiedergeben! EGAL WIE SEHR IHR VERSUCHT, EUCH NOCH EINMAL SO ZU FÜHLEN WIE MIT 10, DAS WIRD NIE WIEDER SO SEIN!!! IHR WERDET DIE WELT NIE WIEDER MIT SO VIEL WUNDER BETRACHTEN! UND SO SEHR IHR AUCH VERSUCHT, DIESES GEFÜHL ZU REKREIEREN, ES WIRD NICHT AUSREICHEN UM DIE RIESIGE LEERE IN EURER SEELE ZU STOPFEN!!! IHR WERDET EINES TAGES STEREBEN UND IHR KÖNNT DIESER VERFICKTEN WAHRHEIT NICHT ENTKOMMEN!!! TIEF IM INNEREN WISST IHR, DASS EURE NOSTALGIE NUR EIN ERBÄRMLICHER FLUCHTMECAHNISMUS IST UND IHR DAS SEID, WAS MIT DER WELT NICHT STIMMT!!!!!! UND…

Ähhh….Anyway…

Ich würde jedem empfehlen The cursed Child zu lesen. Denen, die es noch nicht kennen, weil es ein fantastisches, vielschichtiges Werk und die einzig sinnvolle Harry Potter Fortsetzung ist. Und denen, die es schon gelesen haben, würde ich es erneut empfehlen, weil sie es vielleicht zu schnell abgetan haben. Denn wer sich tatsächlich auf das Stück und seine Themen einlässt, wird reichhaltig belohnt werden. Ich kann mir Harry Potter ohne The cursed Child jedenfalls nicht mehr vorstellen.

2 Kommentare:

  1. Es braucht einfach mehr für ein gutes Buch als gesellschaftskritische Themen. Und es sollte selbstverständlich sein, dass die Charaktere eine nachvollziehbare Entwicklung durchlaufen haben und nicht plötzlich zum dummen Sidekick geworden sind (ich spiele auf Ron an). Wenn es wirklich nur um die Themen Erwachsensein etc. ankommt, hätte es nicht in Rahmen von der Harry Potter Welt spielen müssen. Und ich wüsste nicht, dass in irgend einem Buch aus dem Nichts essen herbei gezaubert wird. Die Elfen senden das Essen zB nur von unten nach oben, gekocht wird es trotzdem noch. Kleine Logikfehler wären ja auch verdchmerzbar gewesen, aber bei diesem Buch springen einem die Logikfehler ins Gesicht!
    Mein Fazit: Ja, es werden schöne, wichtige Themen angeschnitten aber die Umsetzung finde ich einfach zu platt und zu wenig durchdacht.

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